Sonnenaufgang über dem Watt, © Florian Trykowski

Die Nordsee – Meer der Superlative

Die Natur der Nordsee ist auf den ersten Eindruck von zurückhaltender Schönheit. Diese Landschaft biedert sich nicht an – sie lässt sich entdecken. Und wer sich die Mühe macht, genauer hinzusehen und zu hören, dem öffnet sie bereitwillig die Schatztruhe ihrer Natur der Superlative.

 

von Gela Brüggemann

Schweinswal, © Die Nordsee GmbH

1. Der Gemächliche


Er ist langsamer als der Delfin, macht keine aufregenden Sprünge, mag keine zu großen Gruppen – der Schweinswal, auch Braunfisch, Kleiner Tümmler oder Meerschwein genannt – ist im Vergleich zum Delfin eher der ruhige Typ. Auch er ist in der Nordsee zu Hause. Warum er Schweinswal heißt, weiß man nicht so genau. Vielleicht aufgrund seiner etwas gedrungen Form. Mit maximal 1,85 Metern und durchschnittlich 50 bis 60 Kilo Körpergewicht ist der Gewöhnliche Schweinswal recht klein.

Bei den rund sechsminütigen Tauchgängen kann er bis zu 100 Meter Wassertiefe erreichen und verständigt sich dabei mit seinen Artgenossen über Klicklaute. Und trotz seiner Bescheidenheit hat er und nicht sein schillernder Verwandter, der Delfin, es als Maskottchen auf das Logo des Weltnaturerbes Wattenmeer geschafft.

Pfuhlschnepfe im Watt, © Sabine Schmidt, Adobe Stock

2. Der Sportlichste


Das UNESCO Weltnaturerbe Wattenmeer ist die größte Drehscheibe für Vogelzug weltweit. Millionen Tiere stärken sich hier zweimal im Jahr – entweder auf dem Weg in ihre Winterquartiere oder auf dem Rückweg in die Brutgebiete. Sie alle leisten Unvorstellbares. Doch ein kleiner Vogel ist mit Abstand der Sportlichste: Die absolute Langstreckenmeisterin unter den Zugvögeln ist die Pfuhlschnepfe. Mit 10.000 Kilometern Flugleistung nonstop zieht sie in ihr Überwinterungsgebiet von Sibirien mit Zwischenstopp in der Nordsee bis nach West- und Südafrika und bringt es dabei auf stolze 10.000 Kilometer. Eine Leistung die Spuren hinterlässt. Die Tiere, die mit etwa 60 Stundenkilometern unterwegs sind, haben am Ziel nicht nur einen Großteil ihres Körpergewichts eingebüßt, sogar Brust- und Herzmuskel sind geschrumpft. Ein Verlust, den der kleine Rekordhalter aber am Ankunftsort schnell auszugleichen weiß.

Seestern, © Elke Backert

3. Der Ausdauerndste


Muscheln sammeln, Seesterne finden, das gehört zum Strandurlaub einfach dazu. Als kleiner Meeresforscher sollte man aber unbedingt darauf achten, dass die Seesterne unter Wasser bleiben, denn sonst geraten Luftbläschen in ihr Wassersystem und sie trocknen aus. Seesterne ernähren sich am liebsten von Muscheln, Krabben, Schnecken, Seeigeln, Würmen, Einsiedlerkrebsen und (Achtung!) von sich selbst. Seesterne essen Artgenossen. Am Ausdauerndsten sind sie aber bei der Jagd nach ihrer Leibspeise, den Muscheln. Stundenlang saugt sich der Seestern an den Schalen der Miesmuschel fest. Bei Gefahr verschließt diese sich. Doch irgendwann muss sie atmen und dafür die Schale öffnen. Das ist der Moment für den Seestern. Er stülpt seinen Magen in das Innere der Muschel und frisst sie auf. Übrigens versuchten Muschelzüchter früher ihre Muschelbänke dadurch zu schützen, dass sie die Seesterne auffischten, durchschnitten und ins Meer zurückwarfen. Was die Züchter nicht wussten: Seesterne können sich auch mit nur ein oder zwei Armen vermehren. Unbewusst verdoppelten die Züchter so die Population und damit auch ihr Problem – die Natur schlägt zurück.

Deichschafe, © Tobias Hoiten

4. Die Unverzichtbaren


Sie sind weit mehr als die beliebtesten Motive auf Postkarten. Schafe sind die Hüter der Deiche, denn sie verfügen über eine Fähigkeit, die bislang von keiner Maschine so kostengünstig und effektiv nachgeahmt werden kann: Den goldenen Tritt. Durch ihre gespaltenen Hufe und den festen Tritt, schützen sie den Deich, indem sie ihn festigen und Maulwurfshügel und Mauselöcher gekonnt verschließen. Ganz nebenbei pflegen sie die Grasnarbe. Diese entwickelt durch das regelmäßige Abgrasen festes Wurzelwerk und hält den Deich schön fest. Weit mehr als Dekoration also – unsere Deichmodels.

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Miesmuschel, © Robin Schneider

5. Die Fleißigste


Sie ist gar nicht so mies, wie sie klingt. Mies ist ja auch einfach nur das plattdeutsche Wort für Moos, von dem das Tier bewachsen ist. Ohne die Miesmuschel wäre die Nordsee mit all den Tieren und Pflanzen, nicht das was sie ist, denn das Tier erfüllt einen existentiell wichtigen Zweck für das Meer: Miesmuscheln sind die größte Kläranlage der Nordsee. Elf Millionen Liter Wasser reinigt das Muscheltier im Jahr. Eine enorme Leistung. Mit ihren beiden Siphonen, filtert sie unter Wasser Nahrungspartikel aus dem Meer. Jede einzelne Muschel bringt es dabei auf zwei bis drei Liter gereinigtes Wasser pro Stunde. Ganz nebenbei ist sie auch noch Hauptnahrungsquelle für die meisten Meeresmitbewohner. Mehr geht nicht.

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Seehunde, © Beate Ulich

6. Der Süßeste


Große, schwarze Kulleraugen, plüschiges Fell – einfach zum Knuddeln, so ein kleiner Seehund. Unter anderem in der Seehundaufzuchtstation in Norddeich kann man die kleinen Fellnasen, die ihre Muttertiere bei der Nahrungssuche verloren haben, beobachten. Bei all der Drolligkeit, könnte man glatt vergessen, dass es sich hierbei um kleine Raubtieranwärter handelt. Ihre Verwandten, die Kegelrobben jagen sogar Schweinswale, wenn sie ausgewachsen sind. Innerhalb von etwa vier bis sechs Wochen müssen sich die Kleinen schnell ein Fettpolster antrinken und verdreifachen dabei ihr Körpergewicht. Ein Seehund kann bis zu 1,80 m lang, mehr als 100 kg schwer und bis an die 40 Jahre alt werden. Fahrgäste der Fähren auf dem Weg von Norddeich nach Juist oder Norderney haben oft das Glück, die Seetiere auf den Sandbänken liegen zu sehen. Ab und zu steckt auch mal einer wie zum Gruß sein rundes Köpfchen direkt neben einer Fähre aus dem Wasser.

Wattschnecke, © Martin Stock/LKN.SH

7. Die Schnellste


Hinter diesem Superlativ verbirgt sich sicher ein pfeilschneller Fisch? Nein, sondern ganz im Gegenteil eher ein Tier, das man an Land mit Langsamkeit verbindet: Die Wattschnecke. Auf der ganzen Welt ist keine ihrer Art ist so schnell wie sie. Für ihren Rekord löst sich das Tier vom Wattboden und lässt sich dann mehrere Meter an der Wasseroberfläche mit den Wellen mittreiben. Sie ersurft sich quasi ihren Geschwindigkeitsrekord. Ganz schön raffiniert, die kleine Schnecke.

Wattwurm, © Robin Schneider

8. Der Unterschätzteste


Er ist nahezu unsichtbar – nur ein kleines Spaghetti-Häufchen aus Sand deutet auf seine U-förmige unterirdische Behausung hin. Dabei ist er der Buddelweltmeister unter den Wattenmeer Tieren: Der Wattwurm. Er ist 30 bis 40 Zentimeter lang und verzehrt bis zu 25 Kilogramm Sand im Jahr. Dafür gräbt er den gesamten oberen Wattboden der Nordsee um und schafft damit die Lebensgrundlage für andere Arten. Denn durch die Umwälzung des Meeresbodens befördert Arenicola marina Nährstoffe an die Oberfläche, baut totes Pflanzenmaterial ab und erhöht damit den Sauerstoffgehalt im Boden – was für ein Service.

Queller, © Jantje Olchers

9. Der Vielseitigste


Aus ihm wurde Glas hergestellt, Seife produziert und Edelküchen servieren ihn als Meeresspargel – gemeint ist der Queller. Tatsächlich wurde er bis ins 19. Jahrhundert hinein zur Glasherstellung verwendet, weil durch seinen hohen Mineralgehalt der Schmelzpunkt des Glases herabgesetzt werden konnte. In Deutschland wird er nicht geerntet, was daran liegt, dass das gesamte Wattenmeer unter Naturschutz steht. In anderen Ländern, wie Frankreich, Israel oder Mexico wird Queller angebaut und ist für den Handel zugelassen.

Seeadler, © mordovarot, Adobe Stock

10. Der Anmutigste


Durch Verfolgung und Einsatz von Pestiziden ist der Seeadler fast vollständig verschwunden. Jetzt sieht man den stolzen Vogel wieder öfter an der Küste. Wenn er in sicherer Höhe seine Kreise zieht, erahnt man seine mächtige Flügelspannweite:  Ganze 2,5 Meter messen die Flügel des Seeadlers, dessen Rumpf etwa 70–95 cm groß ist und sieben Kilogramm wiegt. Das gilt zumindest für die Weibchen. Die männlichen Seeadler sind etwas kleiner. 15–40 Jahre alt werden die Tiere, die sich hauptsächlich von Junggänsen, Enten und Blässhühnern ernähren. Ihre Brut ziehen die respekteinflößenden Raubtiere übrigens mit überraschend liebevoller Fürsorge auf. Kein Wunder, dass dieses besondere Wesen zum Wappentier Deutschlands gewählt wurde.

Gut übernachten